Die Segnung der Pferde
Kinder in ihrer Lebenswelt begreifen und begleiten: Wie Julian vom Gast zum Gastgeber wird.

Wir müssen die St. Anna läuten. Ganz bestimmt und unbedingt. Für Julian ist das wichtig. Die St. Anna, das ist die Glocke an der kleinen Kapelle am Sterntalerhof. Eigentlich kommt die Glocke aus Innsbruck und hat keinerlei Bezug zur heiligen Anna, doch für Julian heißt die Glocke St. Anna und das wird immer so sein. Seit jeher hat der Zwölfjährige ein tiefes Faible für alles Kirchliche – und die kleine Kapelle am Sterntalerhof mit ihrer großen gusseisernen Glocke übt auf den Jungen eine geradezu magische Anziehungskraft aus. Er ist zum ersten Mal am Sterntalerhof, gemeinsam mit seiner Mama, seinem Papa und seinem gesunden kleinen Bruder Jakob, die sich auf Julians Leidenschaft für die Kirche nicht wirklich einen Reim machen können – niemand in der Familie ist besonders religiös. Von Geburt an leidet Julian unter tuberöser Sklerose, einer seltenen und unheilbaren Krankheit, die mit Fehlbildungen am Gehirn einhergeht und zu Entwicklungsstörungen und starker Epilepsie führt. Doch das scheint Julian im Moment nicht weiter zu beschäftigen, viel wichtiger ist es, die St. Anna zu läuten – gern auch minutenlang oder eine ganze Viertelstunde oder eigentlich einfach so lange, bis ihn Therapeutin Elisabeth dabei sanft unterbricht. Eigentlich wusste Elisabeth aus dem Erstgespräch, dass Julian sich auf die Pferde freut. Sie hatte sich entsprechend vorbereitet, wollte ihn auf dem Rücken der Pferde in den Mittelpunkt des Geschehens stellen und dabei die Zeit ganz der Begegnung mit dem Tier widmen. Jetzt muss sie improvisieren – denn Julian erscheint in weißem Messgewand bei der Reithalle und möchte allenfalls noch zum Eselgehege, weil er von deren Gehege St. Anna zumindest im Blick behalten kann. Am selben Abend noch bespricht sich Elisabeth mit Franz, der am Sterntalerhof als Psychotherapeut und Seelsorger wirkt – und begeistert ihn, ein Ritual vorzubereiten, das es so vorher am Sterntalerhof noch nie gegeben hat.

Ein großer Moment
Am letzten Tag von Julians Woche am Sterntalerhof fällt der alltägliche Morgenkreis etwas größer aus. Neben Julians Papa, Mama und seinem kleinen Bruder Jakob, gesellen sich auch zwei weitere Sterntalerhof-Famiien hinzu. Elisabeth hat viele Kolleginnen mitgebracht, auch Stephan vom Organisationsteam ist anwesend, er hat eine Kamera dabei. Doch, hier ist was im Gange. Franz erscheint, passend zu Julian in liturgischen Gewändern, um die Gruppe abzuholen und mit Julian voran gemeinsam bedächtig zur Kapelle zu schreiten. Der Morgenkreis – wird zur Pferdesegnung. Und Julian zum Zeremonienmeister. Bei der Kapelle spricht Franz ein paar Worte. Er behält den überkonfessionellen Ansatz des Sterntalerhofs im Blick, feiert keine Messe, sondern entnimmt nur Anleihen aus der Bibel, um die Bedeutung einer Segnung für alle spürbar zu machen. Dann segnet Julian zunächst die Menschen, mit einem kleinen Zweig, mit sakraler Andacht und stolzer Miene. Nach einem kurzen, aber nicht minder herzhaften Läuten der St. Anna zieht die Gruppe weiter zu den Pferden. Am Zaun wartet Elisabeth mit Gioiella, einer großen Stute mit tiefen dunklen Augen. Andächtig bleibt die Gruppe in einem Halbkreis hinter Julian stehen. Gioiella senkt den Kopf, Julian legt ihr die Hand auf die Nase. Und als wüsste das Pferd um seine Rolle – schließt Gioiella die Augen. Ergriffen spricht Julian seinen Segen. Dann holt er aus und spritzt Gioiella mit Weihwasser an, mehrfach, mit ausladenden Bewegungen, direkt ins Gesicht. Ruhig bleibt das Pferd stehen, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Elisabeth hat ihr Ziel erreicht. Julian und seine individuellen Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt der Begleitung. Der Junge ist vom Gast zum Gastgeber geworden, der die Gruppe beschenkt, durch sein Handeln, seine Segnung, seine Worte – und der im Gegenzug von der Gruppe beschenkt wird, die sich um seine Leidenschaft herum versammelt, an diesem letzten Morgen seiner Woche hier. Das Zusammenwirken aller macht den Hospizbegriff lebendig. Julian strahlt übers ganze Gesicht. Noch am selben Tag wird er sich vom Sterntalerhof verabschieden, von Elisabeth und Franz und Gioiella. Er wird nach Hause fahren, mit seiner Mama, seinem Papa und seinem kleinen Bruder Jakob, er wird zurück in seinen Alltag kehren. Aber vorher wird er noch einmal die St. Anna läuten. Ganz bestimmt und unbedingt. Denn für Julian ist das wichtig.

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