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Ein Flugzeug nach Holland

Wenn alles anders kommt, als du denkst: Die Geschichte von Annas Familie – und ihrer Zeit am Sterntalerhof.

10. April 2025
Ein Flugzeug nach Holland
Der Sterntaler, 21. Ausgabe | © Sterntalerhof

„Es ist jedes Mal wieder ein Abschied.“, sagt Anna. Es klingt wie eine lang gereifte Erkenntnis, wie ein Fazit nach 15 Jahren, eine bittere Tatsache, an die sie sich allmählich gewöhnen musste und nie gewöhnen wird. „Jedes Mal, wenn etwas nicht mehr geht, ist es wieder ein Abschied, eine Katastrophe, ein Tiefschlag – eine Enttäuschung der Erwartungen, die man vom Leben hat.“ Wenn man keine Stufen mehr steigen kann. Wenn man nicht mehr gehen kann. Wenn man den verdammten Winter zu hassen beginnt, weil man nicht mehr nach draußen kann, weil die Gefahr einer Verkühlung zu groß ist – und weil jede Verkühlung lebensbedrohlich ist.

Tschüss, verdammter Winter: Für viele kranke Kinder eröffnen sich im Frühling neue Möglichkeiten.
Tschüss, verdammter Winter: Für viele kranke Kinder eröffnen sich im Frühling neue Möglichkeiten.

Der erste Abschied kommt 2008 und wie all die vielen Abschiede, die ihm folgen sollten, kommt er nicht über Nacht, sondern er beginnt sich abzuzeichnen, sich in Annas Leben hereinzuschleichen. Die ersten Auffälligkeiten hat ihr Sohn David im Kindergarten gezeigt, als er sich für Rechnen, Lesen und Schreiben interessiert – dem Laufen, Springen und Fußballspielen aber aus dem Weg zu gehen scheint. Vielleicht sei er hochbegabt, hat die Kindergärtnerin noch im Frühling vermutet, aber das wird schon. Dann kommt im September die Einschulung und Davids Begegnung mit dem Schulbus. Die erste Stufe beim Einsteigen ist etwas höher als eine gewöhnliche Stufe. David tut sich schwer, Anna beschließt eine Ergotherapie für ihren Siebenjährigen. Nur zwei Monate später lädt die Therapeutin zum Elterngespräch. David bemühe sich zwar sehr, aber es liege nicht an ihm, die Bewegungen würden nicht besser, sie würden schlechter. Über eine Kinderärztin gelangt David schließlich zu einem Spezialisten für neurologische Erkrankungen, dieser vermutet Muskeldystrophie des Typs Duchenne, eine seltene, fortschreitende Erkrankung, die mit zunehmendem Muskelschwund einhergeht. Die Krankheit gilt als unheilbar, die Lebenserwartung für betroffene Kinder liegt damals zwischen 16 und 20 Jahren. Noch vor Weihnachten wird bei David eine Gen-Sequenzierung gemacht, dann heißt es zwei Monate warten. Zwei Monate bangen. Zwei Monate bitte nicht googeln. Zwei Monate nicht schlafen, niemandem was erzählen. Irgendwie Weihnachten feiern. Neujahrsvorsätze machen. Zwei Monate hoffen, dass alles irgendwie gut wird.

Bittere Wahrheiten

„Für mich ist die Welt eingebrochen“, sagt Anna. „Du stehst am nächsten Tag auf, die Kinder gehen in die Schule, in den Kindergarten, es scheint alles normal – doch du weißt, dass sich dein Leben fundamental ändern wird.“ Der Diagnose von David folgt die Diagnose von Dominik. Muskeldystrophie ist eine Erbkrankheit und als bei David traurige Gewissheit herrscht, drängen die Ärzte darauf, auch seinen zwei Jahre jüngeren Bruder zu testen. Eine zweite Katastrophe, ein zweiter Abschied, zwei weitere lange Monate später. Die Nachricht trifft Anna und ihren Mann mit voller Wucht. „Eine Weile lang sind wir nur dagesessen und haben nichts mehr gesagt.“ Keine Worte, keine Erklärung, keine Hoffnung, nur Chaos an der Schwelle zur Panik. Es folgen unzählige Termine, Arztbesuche, Physiotherapie. Anna und ihr Mann ringen um Halt, versuchen durchzuatmen, Erkenntnisse zu sammeln, Pläne zu machen. Wie verläuft die Krankheit? Was bedeutet es, zunächst das Gehen zu verlieren, dann die Arme, irgendwann die Rückenmuskulatur und schließlich Atmung und Herz. „Ich musste es aussprechen, um Klarheit zu bekommen.“, erinnert sich Anna. Von Beginn an organisiert sie Psychotherapie, nicht nur für sich, auch für David und Dominik. Sie beginnt, auf den Moment zu fokussieren, jene Probleme zu lösen, die sich im Jetzt stellen. Etwa in der Schule zu fragen, ob Davids Klasse vielleicht ins Erdgeschoss verlegt werden könne. Oder über das Haus nachzudenken, das sie und ihr Mann für ihre Familie gebaut hatten, in der kleinen Ortschaft im Burgenland, in Hanglage, mit 16 Stufen zur Eingangstür – und nochmals 16 Stufen ins Obergeschoss. Sie beginnt nach vorn zu blicken, abzuschätzen, wann es wohl Zeit für einen Rollstuhl sei. Und was sie gemeinsam noch tun und machen und sehen wollen, solange die Kinder noch gehen können. Der Abschied vom Gehen folgt nur zwei Jahre später. Auch dieser Abschied kündigt sich an, wirft seine Schatten voraus, als David immer öfter einfach zusammensackt, oder aus dem Sitzen nicht mehr aufkommt. Anna versucht, den Umstieg auf den E-Rolli möglichst positiv zu besetzen. „Wenn der kommt, dann kannst du wieder … “ – ein großer, ein guter Moment. In ihrem Inneren jedoch ficht sie einen Kampf aus, der ihr viel Kraft raubt. „Es verändert sich augenscheinlich, du siehst, dass er sich immer schwerer tut, es bricht dir das Herz.“ Im selben Jahr verkaufen Anna und ihr Mann das Haus, siedeln zweimal um, zuerst in eine Wohnung, schließlich in ein kleineres, ebenerdiges Haus. Kurze Zeit später nimmt auch Dominik Abschied vom Gehen, bei ihm scheint die Krankheit noch schneller zu verlaufen. Und dann, irgendwann im Auto, während der Fahrt nach Hause vom Einkaufen, stellt David die Frage, von der Anna hoffte, dass er sie nie stellen würde: Die Frage, ob er an seiner Krankheit sterben wird? Zu oft hatte sie die Frage gefürchtet, sich immer wieder gefragt, was sie wohl antworten würde. „Letztendlich trifft es dich unvorbereitet, du flüchtest dich in siebenhundert Ausflüchte, von wegen das kann man so nicht sagen und wann und wie und überhaupt“, doch David hört nicht auf zu fragen, er ruht nicht, bis ihm Anna eine Antwort gibt. Eine Antwort, für die Anna tief einatmen muss, die sie ihm aber schließlich klar und deutlich gibt. „Er wollte es wissen. Und ich wollte ehrlich sein.“ sagt Anna heute.

Ganzheitlicher Ansatz: Der Sterntalerhof sieht nie nur das betroffene Kind, sondern immer die gesamte Familie. Für Mütter, Väter und Geschwisterkinder greift ein individuelles Therapieprogramm.
Ganzheitlicher Ansatz: Der Sterntalerhof sieht nie nur das betroffene Kind, sondern immer die gesamte Familie. Für Mütter, Väter und Geschwisterkinder greift ein individuelles Therapieprogramm.

Das Gefühl von „Ich kann!“

Es ist die Zeit, in der sie zum ersten Mal am Sterntalerhof anruft. Monatelang zögert sie, in einem „Hospiz“ anzurufen, doch auf den Fotos im Internet gewinnt sie Zuversicht und ringt sich schließlich durch, „Es konnte nur besser werden.“ Am Ende ihrer Kräfte kommt die Familie 2014 zum ersten Mal am Sterntalerhof an, Anna, ihr Mann, David und Dominik, beide in ihren Rollstühlen. Die Familie bezieht ihr Quartier, es folgt ein erstes gemeinsames Gespräch. Noch vor dem Mittagessen, drehen die Burschen eine Runde in der Anlage, die (damals noch) angehenden Therapeutinnen Silke und Julia begleiten sie dabei. Der verdammte Winter ist vorbei, ein Hauch von Frühling liegt in der Luft. In der Nähe der Reithalle parken zwei Seifenkisten, Silke stellt sie angriffslustig auf den Gehweg. Zwei Seifenkisten, zwei Rollstühle, ein Gehweg. „Minuten später war das Rennen eröffnet“, erinnert sich Anna. Silke und Julia in den Seifenkisten, David und Dominik in ihren E-Rollis – ein Riesenspaß, der gleich am Nachmittag stundenlang wiederholt werden musste. Noch am ersten Tag haben sich Annas Bedenken im Lachen ihrer Kinder aufgelöst. „Hier geht’s nicht ums Sterben, hier geht’s ums Leben!“, sagt sie mit starker Stimme, „Es geht um ein Miteinander auf Augenhöhe, um Kraft und Zuversicht.“

Am nächsten Morgen steht eine erste Begegnung mit den Pferden an. Während Anna und David aus Respekt zunächst lieber auf Abstand bleiben, erweist sich Dominik als mutig, er will es wagen. „Und dann erlebst du diese Annäherung hautnah mit.“, erzählt Anna, „Dieses langsame Hinfahren mit dem Rollstuhl, auf einer eigens dafür konstruierten Rampe in der Reithalle. Dieses vorsichtige erste Beschnuppern zwischen dem mächtigen Tier und meinem Kind im Rollstuhl. Das Herzklopfen, wenn fünf, sechs Leute ums Pferd stehen, um das Alles erst möglich zu machen, um Dominik aus dem Rollstuhl zu hieven, hinüber auf den Rücken des Pferds, wo Silke schon sitzt, um das Kind entgegenzunehmen und zu stützen. Die ersten vorsichtigen Schritte, die das Pferd macht, das sanfte langsame Schaukeln. Anna macht eine kurze Pause. „Und dann dieses Strahlen auf Dominiks Gesicht. Er hat seinem großen Bruder zugewunken und ihm zugerufen, wie großartig das ist und David, das musst du unbedingt auch probieren!“ Anna lächelt. „Dieser Stolz, dieses Gefühl von »ich kann« – das vergisst du nie.“

Immer wieder in den kommenden Jahren kehren Anna, David und Dominik an den Sterntalerhof zurück, erholen sich von den vielen kleinen und großen Abschieden, Katastrophen und Tiefschlägen, wenn etwas nicht mehr geht. Wenn man eine Schultasche nicht mehr allein auspacken kann. Wenn man nicht mehr schreiben kann. Wenn man nicht mehr selbständig trinken kann. Sie sind auch am Sterntalerhof, als sich David mit 14 von einer schweren Operation an der Wirbelsäule erholt – ein entscheidender Eingriff, der den Verlauf der Krankheit hinauszögert und sein Leben verlängert. Ein Eingriff, der möglichst bald auch für Dominik kommen soll. Vom Sterntalerhof aus fährt Anna mit Dominik ins Krankenhaus nach Graz zu Vorsorgeuntersuchungen. An den Sterntalerhof kehrt sie mit ihm zurück, Stunden später, mit der bitteren Erkenntnis, dass Dominiks Herz schon zu schwach ist, dass eine Operation für ihn nicht mehr möglich ist. Es ist die größte Katastrophe, der größte Tiefschlag seit Langem. Und der Beginn eines neuen, langen – und endgültigen Abschieds.

Begegnung auf Augenhöhe: Tiergestützte Therapieformen als elementarer Bestandteil der Lebensbegleitung.
Begegnung auf Augenhöhe: Tiergestützte Therapieformen als elementarer Bestandteil der Lebensbegleitung.

Die schönste Zeit des Lebens.

„Stell dir vor, du bereitest eine Reise nach Italien vor.“, sagt Anna. „Du packst ein und freust dich auf Sommer, Sonne und Strand. Im Flugzeug dann, kommt unvermittelt die Durchsage – wir ändern das Ziel, es geht nach Holland.“ Anna macht eine Pause und lächelt. „Wenn du dein Leben damit verbringst, zu beklagen, dass du nicht in Italien bist – wirst du nie die vielen schönen Dinge sehen, die Holland für dich zu bieten hat.“ Diesen Wechsel des Blickwinkels, die gezielte Sicht auf die Dinge – das habe sie am Sterntalerhof gelernt, sagt Anna. „Du erwartest dir ein schönes Leben. Aber das hat dir niemand versprochen. Im Gegenzug stellt sich die Frage – was ist ein schönes Leben? Geht es nicht vordergründig darum, schöne Erinnerungen zu haben – und schöne Erinnerungen zu schaffen?“ Ihr ganzes Haus sei voll dieser Erinnerungen, sagt Anna – Zeichnungen, Bastelwerke, Muttertagsgeschenke, Polsterbezüge, entstanden am Sterntalerhof, über lange Jahre, in Wochen zwischen Verzweiflung und Zuversicht. „Der Sterntalerhof ist wie eine Berghütte für müde Wanderer im kalten Winter. Du kehrst ein, es ist eingeheizt, du hast einen Platz zum Schlafen, zum Verschnaufen, zum Durchatmen – bevor es wieder weiter geht.“, sagt Anna leise, „Dominik hatte hier die schönste Zeit seines Lebens.“

Vor wenigen Wochen waren Anna, ihr Mann und David zuletzt am Sterntalerhof. Sie kamen, um Freunde und Freundinnen zu besuchen. Um sich an Dominik zu erinnern. Um neue Kraft zu tanken. David ist heute Anfang zwanzig. Seine Krankheit ist weit fortgeschritten, aber sie hat ihn nicht bezwungen: Er studiert Geografie, im Winter mit Sondergenehmigung Remote von zu Hause. Wie Anna blickt er auf viele Abschiede, Katastrophen und Tiefschläge zurück. Er hat nie aufgehört nach vorn zu blicken. Im Frühling vor drei Jahren hat er sich hier am Sterntalerhof von seinem kleinen Bruder Dominik verabschiedet. In diesem Frühling will er sich von gar nichts verabschieden. Außer vielleicht vom verdammten Winter.

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