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Ein Geheimnis für Pauli

Die Kraft der Tiere – oder was ein Ziegenbock zu leisten vermag

10. April 2025
Ein Geheimnis für Pauli
Der Sterntaler, 21. Ausgabe | © Sterntalerhof

Leon spricht nicht. Vielleicht kann er nicht, vielleicht will er nicht, Verena weiß es nicht. Vielleicht hat er ein Geheimnis. Einmal noch schubst sie ihm den grünen Ball zu. Der zwölfjährige Bub fängt ihn auf. Er steht mit fünf gleichaltrigen Kindern in einem Halbkreis auf einer Wiese am Sterntalerhof, mit Verena der Therapeutin. Es ist sein erster Nachmittag, gemeinsam werden die Kinder der Sonderschule Oberwart jeden Mittwoch eine Stunde hier verbringen, zwei, drei Monate lang, zur ambulanten Begleitung am Sterntalerhof. Den grünen Ball hat Verena mitgebracht, für die Eingangsrunde: Jedes Kind, das ihn zugeworfen bekommt, soll sich vorstellen, seinen Namen sagen, sein Lieblingstier oder sein Lieblingslied, die Lieblingsfarbe. Doch Leon spricht nicht. Auch jetzt nicht, als er den Ball ein zweites Mal bekommt. Er sagt kein Wort, blickt nur beschämt auf den Boden und wirft den Ball weiter zum nächsten Kind.

Leon spricht auch nicht, als die Gruppe sich dann zum gemeinsamen Werken an den großen Tisch beim Haupthaus setzt. Ein Erinnerungsbuch wollen sie gestalten – und gleich am ersten Tag damit beginnen. Jedes Kind bekommt ein Buch, mit vielen leeren Seiten, um schöne Erlebnisse festzuhalten, Gedanken aufzuschreiben, kleine Andenken hineinzukleben – Dinge mit denen man Freude und Glück verbindet, wenn man das Erinnerungsbuch später zur Hand nimmt, in schwierigen Zeiten oder einfach nur, wenn man den Sterntalerhof vermisst. Zu Beginn ist heute der Einband dran, das Cover, das Deckblatt. Marie malt Blumen, Matteo einen Pferdekopf, Leyla illustriert die ganze Gruppe, sechs Kinder und Verena. Leon malt den Umschlag auf ganzer Fläche rabenschwarz an – und während sich die Kinder vergnügt unterhalten, blickt Leon nur stumm vor sich hin, schweigt still, dreht sich weg, wenn er angesprochen wird, vermeidet jeden Blickkontakt. Verena beobachtet ihn. Vielleicht hat er wirklich ein Geheimnis.

Therapeutin Ella mit Ziegenbock „Pauli“ –auch abseits der Pferdekoppel spielen Tiere am Sterntalerhof eine wichtige Rolle für die Lebensbegleitung
Therapeutin Ella mit Ziegenbock „Pauli“ – auch abseits der Pferdekoppel spielen Tiere am Sterntalerhof eine wichtige Rolle für die Lebensbegleitung

Als die Frühlingssonne tiefer sinkt und die Schatten allmählich länger werden, steht ein Besuch bei den Tieren an. Die Kinder bereiten kleine Schälchen mit Salat und Gurken für Esel, Schafe und Ziegen vor, dann machen sie sich gemeinsam auf den Weg. Am Gatter sind die vierbeinigen Fellnasen schon in Stellung, Lautstark begrüßt das Eselpärchen Kasimir und Trixi seine Besucher. Eine Ebene tiefer bahnt sich Ziegenbock Pauli dominant seinen Weg, verdrängt seine beiden Artgenossen, damit er ja der Erste ist am Zaun, so wie immer. Doch auf Gemüse scheint er sprichwörtlich keinen Bock zu haben, wühlt mit der Nase in den Schälchen von Marie und Matteo herum, spuckt die Gurken wieder aus. Enttäuscht ziehen die Kinder weiter zu den Schafen – nur Leon bleibt bei Pauli stehen. Verena beobachtet ihn erneut. Langsam stellt er sein Futterschälchen auf den Boden und tritt näher an den Zaun heran. Der Ziegenbock blickt den Jungen an. Leon streckt seine Hand aus, fädelt sie durch die Zaunmasche, bewegt sie langsam zu Paulis Nase. Vorsichtig beginnt der Junge das Tier zu streicheln, zunächst nur mit den Fingerspitzen, sanft und bedächtig. Die Ziege senkt den Kopf, macht einen Schritt, kommt so nah an den Zaun wie sie kann. Ohne sein Streicheln zu unterbrechen, geht Leon langsam in die Hocke. Verena beobachtet ihn weiter. Der Junge ist voll und ganz beim Tier, sie kann es spüren. Und dann – beginnt Leon mit Pauli zu sprechen, ganz leise, so dass nur Pauli es hören kann. Nur kurz macht er Atempausen, dann spricht er weiter, minutenlang verbleibt er auf Augenhöhe mit dem Ziegenbock, murmelt, flüstert, haucht ihm seine Worte zu. Verena bleibt auf Distanz. Keinesfalls will sie Leon stören. Sie freut sich leise. Da ist sie wieder, die Kraft der Tiere. Und nein, Pauli hat keine Ausbildung, so wie die Pferde am Sterntalerhof. Er braucht auch keine – er ist keine Therapieziege. Er ist einfach Pauli. Mit allem, was eine Ziege nun mal ist und sein kann. Neugierig. Vielleicht ein bisschen egozentrisch. Verkuschelt. Aber vor allem – wertfrei. Authentisch. Echt und ehrlich. Und naturgemäß verschwiegen. Ein guter Bewahrer von Geheimnissen.

Vielleicht wird Leon auch das nächste mal nicht sprechen, wenn ihm Verena wieder den grünen Ball zuwirft. Er muss es auch nicht, es spielt für Verena keine Rolle. Die Sprache ist nur eine von vielen Formen der Kommunikation. Vielleicht spricht Leon nicht, aber er kommuniziert. Zumindest mit Pauli.

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